Martin Amanshauser

Operetten, Seerosen und Stromschnellen

Die nordostkroatischen Gespanschaften Varaždin und Međimurje sind Geheimtipps des südsteirischen Genres.

„Komm mit nach Varasdin, solange noch die Rosen blühn“, lautet der berühmte Text aus der Operette, „Du bist die schönste Fee, von Debrecin bis Plattensee / Drum möcht mit dir ich hin nach Varasdin!“ So einfach ging das damals, so suggestiv und doch simpel funktionierten die Aufrisstechniken bei Emmerich Kálmán in der „Gräfin Mariza“. Den Weg nach Varaždin gehen aber heutzutage nur wenige. Dabei würden sich österreichische Wirtschaftspatrioten zu Hause fühlen: Raiffeisen, Uniqa, BIPA, Volksbank und Julius Meinl prägen das Stadtbild.

Die nordkroatische 50.000 Einwohner-Kleinstadt an der Drau zeigt sich ihren wenigen Gästen als kompakte Monarchie-Destiantion. Nicht zufällig spricht man vom „kleinen Wien Kroatiens“, die Gartenarchitektur aus dem 19. Jahrhundert erinnert an jene des Stadtparks, dazu kommt einer der schönsten Friedhöfe Europas, Varaždinsko Groblje, ein Naturdenkmal mit Grabsteinen. Mehr der Wirklichkeit zugewandt ist das größte Fest der Region: das zehntägige Špancirfest am Ende des Sommers, für das sich die Stadt in ein Straßenkunst-, Theater- und World-Music-Zentrum verwandelt. Die Etymologie täuscht hier nicht: Das Špancirfest ist ein (Herum-)Spazierfest, daher der Name.

Wer außer Gartenfreunden und Festivalfreaks fährt noch nach Varaždin? Selbstverständlich Insektenliebhaber. Gymnasialprofessor Franjo Košćec gründete eine außergewöhnliche entomologische Sammlung, die heute im großbürgerlichen Palais Herczer zu sehen ist: 4.500 Exponate, darunter Hirschkäfer, blaue Fleckenfalter, sämtliche getrocknete Präparate, Insektenmodelle wie aus Horrorfilmen, Modelle von Nistplätzen, alle Privatwerkzeuge und schließlich das Arbeitszimmer des Professors: eben, was das bizarre Insektenliebhaberherz erfreut.

Varaždin liegt am rechten oberen Zipfel der gleichnamigen Gespanschaft – gleich neben dem wunderbaren Landstrich Međimurje, dem sogenannten Zwischenmurland im Dreiländereck mit Slowenien und Österreich. Das Gebiet zwischen Mur und Drau wird auch Murinsel genannt. Hier sieht es aus wie in einer ursprünglicheren, wilderen Südsteiermark. In einer sanften Hügellandschaft mit Wiesen, Wäldern und Weinbergen liegen die traditionellen Dörfer, traubenförmig angeordnet um Kirchen – und wie Punkte in der Landschaft die Schlösser und Herrenhäuser. Auch beim Wein zieht Nordkroatien mit: so führt die Familie Jakopić auf Schloss Terbotz eine Gaststätte mit Weinarchiv und Rittersaal – und vertreibt auch den Eigenbau.

Die Weinstraße in Međimurje mit über 30 Probierstuben und Kellern – viel Weiß, wenig Rot und dazu kalter Aufschnitt – wird noch zu entdecken sein, die traditionellen Gasthöfe mit Tiblica (geräuchertes Schweinefleisch mit Fett übergossen) und dem Turoš-Käse (geräucherter Topfen mit Paprika) ebenfalls. Auf dem Spa-, Golf- und Wellnessbereich hat hingegen das Resort Sveti Martin einen Abdruck hinterlassen, als der beherrschende Tourismus-Wirtschafsfaktor der Region. Der Beweis, dass es auch im Landesinneren, weit von Adria, Goldbrasse und Bora, kroatische Badedestinationen gibt. Die Pool- und Rutschenlandschaft erfreut nicht nur die Badefreudigen des Zwischenmurlands – sondern auch die halbe Zagreber Oberschicht. Die Umgebung besticht durch ihre Unberührtheit. Fünf Minuten Fahrt, und man trifft Silvio – das berühmteste Exemplar der nahe gelegenen Hirsch-Farm in einem Tal zwischen ausgedehnten Weingärten. Der immer streichelbare Silvio ist äußerst gutmütig, hat kaum noch Zähne, und wird jedes Jahr im Dezember zum beliebtesten Fotomotiv. Für die ganz große Karriere fehlt ihm nur noch die Kutsche.

Weiter östlich, im dörflichen Kraljevac, steht das Geburtshaus von Rudolf Steiner, widersprüchlich wie alles, was den ersten Anthroposophen, Gründer der Waldorfpädagogik und der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und der organischen Architektur betrifft. Sein Vater arbeitete hier als Bahntelegrafist bei der Südbahngesellschaft. In den lokalen Broschüren wird die „ausgezeichnete Persönlichkeit“ allen „Anbetern seines Werks“ nahegebracht, das Haus ist ein Pilgerort für diese Art von Fans.

Mlin na Muri, die hölzerne Wassermühle an der Mur (1902), ist die letzte von hunderten, die hier in Betrieb waren – sie knarrt und dreht sich noch immer. Den Fluss selbst überquert man mit einer motorlosen Rollfähre. Drüben beginnt Slowenien. Der reißende Fluss könnte auch wirklich die Grenze bilden. Er tut es aber nicht. Die Grenze verläuft einmal hier, einmal dort, drei Viertel der Mur gehört zu Kroatien, dazwischen sind wieder slowenische Stellen. Ex-Jugoslawien ist noch immer kein normales Land.

Ein paar Kilometer weiter im Hinterland befindet sich ein Paradies aus Seerosen, Fröschen, Schwänen, Millionen von Fischen, eine allumfassende Stille in einem stillgelegten Nebenarm der Mur: die Backwaters. Ein lokaler Kapitän lässt sein Holzboot mit Gondoliere-Technik über das Wasser gleiten. Er schweigt, denn die Gondoliere von Međimurje singen nicht. Doch die Kálmán-Operette geht einem ohnehin schon lange nicht aus dem Ohr: „Denn meine Leidenschaft brennt heißer noch als Gulaschsaft / Drum möcht mit dir ich hin nach Varasdin!“